Schmerz in der Physiotherapie

Wenn man aktuelle Zahlen zum Thema Schmerz zusammenfässt ergibt sich folgendes Bild:

  • jeder 5. Europäer leidet an Schmerzen, jeder 2. davon gibt an, an mittleren bis starken Schmerzen zu leiden
  • ca. 66% der Patienten leiden an Rückenschmerzen, jeder 2. an sonstigen Gelenkschmerzen und jeder 3. an Nackenschmerzen
  • 17% der Deutschen geben an, an moderaten oder schweren Schmerzen länger als 6 Monate zu leiden, das sind ca 13 Millionen chron. Schmerzpatienten, die meisten davon mit Rückenschmerzen.
  • die jährlichen Kosten für die Schmerzbehandlung belaufen sich auf über 15 Milliarden Euro, alleine in Deutschland. Die wirtschaftlichen Kosten für den Arbeitsausfall sind hierbei noch nicht mit berechnet.
  • die AOK veröffentlichte 2002 die Zahl von 33785 Krankheitstagen wegen Erkrankungen/ Schmerzen der Wirbelsäule bei ca 10000 Mitgliedern. Das sind über 3 Kranksheitstage im Jahr pro Versicherten

(Quelle: change-pain.de)

Schmerzen lassen sich kurz in 2 Kategorien einteilen: akute und chronische Schmerzen.

Akute Schmerzen halten nicht länger als 6 bis 12 Wochen und sind meist Folgen eines mechanischen Reizes.

Als klassisches Beispiel sollte hier der Hexenschuss gelten oder kurz LBP (lower back Pain). Eine bestimmte Bewegung wird gemacht, ein akuter Schmerz „schiesst“ ein und der betroffene wird sich nicht mehr frei bewegen können. Der Schmerz ist ein Reiz um den Körper vor weiteren Verletzungen in diesem Status zu schützen und der Patient wird sich nur noch sehr vorsichtig bewegen. Dabei entsteht aber in den meisten Fällen keine Strukturelle Verletzung. Myofasciale Strukturen nehmen an Spannung auf um das zu schützende Areal still zu legen und Bewegung zu vermeiden. Ein Schutzreflex sozusagen des Körpers. Soweit die Theorie.

Wenn dieses akute Schmerzereignis für den Patienten so dominant ist und er mit Angst auf jede weitere Bewegung reagiert und das bewegen unter Umständen ganz einstellt oder eher sogar unter falscher therapeutischer Anleitung bestimmte Bewegungen nicht mehr zulässt oder gar passiv durch Gurte und Schienen ruhig gestellt wird, kann sich dieses Ereignis schnell in eine länger andauernde Symptomatik wandeln.

Hierbei ist zu erwähnen das bei länger andauernden Schmerzen (3 bis 6 Wochen) die Diagnostiksmaschinerie  in unserem Gesundheitssystem angeworfen wird. Interessant sind hierbei Zahlen aus den USA von 2015:

  • bei MRT Scans der LWS lies sich bei 37% der 20-jährigen degenerative Veränderungen feststellen. Bei den 80jährigen waren es 96% mit degenerativen Veränderungen.
  • Bandscheibenvorfälle gab es bei den 20 Jährigen schon in 37% der untersuchten Fälle und bei den 80 jährigen 43%.
  • Facettendegeneration der 20jährigen lag bei 4% und bei den 80jährigen bei 83%.

Dabei gibt es übrigens keinen Zusammenhang zwischen den Schweregrad der Degeneration und den subjektiv empfundenen Schmerz.

Warum werden also Schmerzen chronisch und was bedeutet das für die Physiotherapie?

Chronifizierende Faktoren sind z.B:

  • beruflicher Natur:Unzufriedenheit, Konflikte, schwere körperliche aber auch monotone Arbeit und geringe berufliche Qualifikation
  • kognitive/ bzw durch Fehlinformation:
  • mangelhaftes Verständnis der multikausalen Therapie, Überbewertung radilogischer Befunde und auch übertriebener Einsatz von Diagnostik, lange Krankschreibung, Förderung und Einforderung passiver Therapie

Dabei gibt es verschiedene Risikogruppen und Verhalten:

hohes Risiko: Depression, negativer Stress, schmerzbezogenes Verhalten zb Vermeidungstaktiken, Schmerzdramatisierung und Passivität im Schmerz

mittleres Risiko: schmerzbezogene Kognition, überaktives Schmerzverhalten, Neigung zur Somatisierung

geringes Risiko: Persönlichkeitsmerkmale, psychopathologische Störungen

Zusammengefasst: ob ein Schmerzpatient vom akuten Schmerz in einen chronisches Schmerzverhalten übergeht liegt selten am strukturellen Defekt. Dieser spielt sogar eine untergeordnete Rolle und sollte wohl nur nach einem starken individuellen Trauma in Betracht gezogen werden.

Die Chronifizierung von Schmerzen hat seine Ursache im gesamten System.

Der Patient mit seinem teilweise mangelnden Wissen und Verständnis für seine Problematik und seine mangelnde Eigeninitiative für seine Gesundheit Verantwortung zu übernehmen.

Das auf strukturelle Defekte ausgerichtete medizinische System bei dem kommuniziert wird, das eine kaputte Struktur auch Schmerzen verursachen muss und deshalb in vielen Fällen ausgetauscht bzw ausgebessert werden sollte. Das im europäischen Vergleich Deutschland die meisten Gelenkoperationen vorweist verwundert hierbei nicht.

Eine OP lohnt sich finanziell kurzfristig mehr, als eine multikausale Therapie die vielleicht Monate in Anspruch nehmen könnte und viel Eigeninitiative des Patienten und Aufklärungsarbeit der Behandler und ständige Reflexion aller Beteiligter voraussetzen würde.

Für die Physiotherapie bedeutet das ein umdenken der Therapeuten. Ist es sinnvoll strukturell zu arbeiten, wenn die Struktur oftmals nicht mehr das Problem ist? Welcher Therapeut erlebt es nicht täglich das der Patient nach der Behandlung glücklich aus der Praxis geht und zwei Tage später mit dem selben Problem wieder kommt. Und dann wieder genau das selbe gemacht wird, weil es ja beim ersten Mal so gut geholfen hat?

Wie wäre es, wenn man den Patienten stattdessen gezielt coacht, die Problematik analysiert, die Wahrnehmung des Patienten fördert und gemeinsam Strategien erarbeitet wie der Patient mit seinem Schmerz umgeht, ihn bekämpft und ihn auf lange Sicht sogar ganz vergisst?

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am Medizin. Setzte ein Lesezeichen permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert